08 Jun Der „besondere“ Junge
So bin ich eben – besonders anders
(Werbung – Buchtitelnennung)
Lang ist es her
Beim Durchforsten bzw. Aufräumen meiner Yogaunterlagen sind mir auch einige Notizen von meinen „alten“ Kinderyogakursen in die Hände gekommen. Irgendwie war es dann so, als würde ein Film vor meinem inneren Auge ablaufen, und mir wurden einige „Highlights“ von all den vielen, teilweise sehr bewegenden Kinderyogastunden gezeigt. Ich habe wirklich so wunderschöne und bewegende Momente in den vielen Kinderyogastunden erfahren dürfen.
Auf einmal kam mir ein „ganz besonderer Junge“ in den Sinn. Ich möchte euch von ihm berichten. Ich nenne ihn hier in meiner Schilderung „Jonas“.
Besonders anders und trotzdem total normal
Jonas wurde im Schulalter von seiner Mutter zum Kinderyoga angemeldet, weil er, bedingt durch seine Lese- und Schreibhaltung, sehr unter Schulter-Nackenverspannungen litt. Jonas hatte eine „komische“ Haltung, weil es ihm nicht anders möglich war zu lesen oder zu schreiben. Der Junge hatte nämlich massive Augenprobleme. Er kam mit einer genetischen Auffälligkeit (ich mag das Wort „Störung“ nicht) auf die Welt: Albinismus.
Die Mama hatte die Idee, ihm durch die Yogaübungen zu einer besseren Haltung und weniger Verspannungen zu verhelfen.
Jonas war anders als die andern Yogakinder
Als Jonas zur ersten Kinderyogastunde erschien, schauten die anderen Yogakinder erst einmal etwas irritiert, weil der Junge – mitten im Hochsommer – in langärmligem T-Shirt und langer Hose erschien. Eigentlich viel zu warm angezogen. Sein Erscheinungsbild war schon auffällig, durch seine hellen, fast weißen Haare, seiner blassen Haut und seiner orange getönten Brille. Eben irgendwie anders. Stand man ihm nah gegenüber, konnte man seine Augen entdecken – diese machten manchmal ungewohnte, schnelle Bewegungen und sahen je nach Lichteinfall anders aus, wie eine Mischung aus Rot und Blau.
Die Mutter von Jonas hatte mich im telefonischen Vorgespräch über den Gesundheitszustand ihres Sohnes und der Stoffwechselauffälligkeit, dem Albinismus, informiert und mir auch die Probleme ihres Jungen geschildert.
Zuerst irritiert – dann integriert
Das Erscheinungsbild von Jonas irritierte die anderen Kinder und sie schauten ihn fragend an. Diese fragendenden Blicke habe ich sofort wahrgenommen und ich habe den neuen Jungen vorgestellt. Wie selbstverständlich habe ich den Kindern erklärt, warum Jonas so hellhäutig ist und eine getönte Brille tragen muss. Jonas durfte sich dann selber vorstellen und weitere Informationen ergänzen. Er erklärte den anderen Kindern, warum er bei diesen heißen Sommertemperaturen mit langer Hose und einem Sweatshirt zum Kurs erschienen ist.
Durch diese Erklärungen konnten wir Klarheit schaffen. Die anderen Kinder schauten fragend und schienen irgendwie betroffen. Aber Jonas machte gleich einen Witz über seine Besonderheit und dann schien der Bann gebrochen und die kurze Irritation war verflogen. Der Junge mit der Pigmentstörung hatte nämlich einen ganz besonderen Humor.
Jonas war von Anfang an in die Kinderyogagruppe integriert und wie schon zuvor beschrieben, liebten sie seinen Humor und sein großes Interesse für Technik und Natur. Niemand störte sich daran, dass er nicht gut gucken konnte und sich die Übungen manchmal aus der Nähe anschauen musste, um diese dann praktisch umzusetzen.
Kinderyoga stärkt Körper und Seele
Der Junge kam sehr gerne zum Kinderyoga und war über viele Jahre bei mir in den Kursen. Er war in jedem neuen Kurs immer sofort integriert und ihm taten nicht nur die Übungen gut, sondern sein Selbstwertgefühl wurde gestärkt. Er wurde immer mutiger und erzählte auch manchmal von seinen Alltagsschwierigkeiten und Herausforderungen. Wenn andere Kinder sorglos ins Schwimmbad gingen, musste Jonas immer gut auf Sonnenschutz für seine empfindliche Haut achten, entweder durch entsprechende Kleidund oder durch das Auftragen von Sonnencreme. Ich durfte auch beobachten, wie sich seine Körperhaltung veränderte, er ging sehr viel aufgerichteter. Er hat in all den Kursen sehr viel positive Aufmerksamkeit von den anderen Kindern und auch von mir erfahren dürfen und so an dem Gefühl der Bedeutsamkeit für sich gewinnen können, was wiederum sein Selbstwertgefühl gestärkt hat.
Die Worte der Mutter rührten mich zu Tränen
Warum ich dies nun hier im Blog beschreibe? Zum einen, weil ich an Jonas denken musste und wie es der Zufall so wollte, habe ich doch tatsächlich – nach mehr als 10 Jahren – seine Mutter am Wochenende getroffen. Ich habe sie angesprochen, ob Sie nicht die Mutter von Jonas sei und sie bejahte dies. Wir sprachen über die Kinderyogazeit und über die positive Entwicklung von Jonas.
Doch dann sagte die Mutter etwas, was mich tief berührt und fast zu Tränen gerührt hat: „Frau Pilguj, wissen Sie, die Kinderyogakurse waren die einzigen Kurse, in denen Jonas nicht gemobbt oder ausgelacht wurde, deshalb wollte er auch immer wieder zu ihnen kommen…“.
Damals war mir der Begriff „Diversity“ noch nicht so geläufig. Aber es war mir immer schon wichtig, dass jedes Kind in meinen Kursen die Botschaft vermittelt bekommt: Du bist ok, so wie du bist.
Jonas hat definitiv meinen Kinderyogaunterricht bereichert und heute würde man sagen, die Kinder waren ein Bespiel dafür, wie „normal“ und einfach Diversity sein kann. Auch, wenn es wie im Fall von Jonas einfach nur eine kurze Erklärung braucht, damit andere Kinder verstehen können, warum Jonas so ist, wie er ist – eben ein ganz normaler, besonderer Junge!
Für mich war es eine ganz besondere Erfahrung, auch die Mutter nach all den Jahren wieder getroffen zu haben.
Es ist so wichtig, dass jedes Kind das Gefühl vermittelt bekommt, dass es bedeutsam und wertvoll ist, so wie es eben ist.
Und genau aus diesem Grund habe ich für mein Mutmachbuch für hochsensible Kinder den Titel „Ich bin wie ich bin – genial und total normal“ gewählt.
Amigo, der Hund aus dem Buch und ich möchten diese Botschaft „Ich bin wie ich bin – genial und total normal“ hinaus in die Welt tragen, zu den Kindern, den Eltern, den Familienangehörigen, den Erzieher/Innen, den Lehrkräften und zu allen Erwachsenen, die beruflich mit Kindern zu tun haben. Alle Kinder dieser Erde sollen sich normal fühlen, egal, welche Besonderheiten sie mit auf die Welt gebracht haben.
Wir, Amigo und ich, finden, das schubladen- und leistungsorientierte Denken sollte endlich mal in die Mülltonne gepackt werden!
Jedes Kind ist einzigartig, genial und total normal!
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